Der trügerische Schein von Glanz und Gloria

Wilhelminismus

Glanz und Gloria

Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg erschienen die beiden Jahrzehnte um die Jahrhundertwende als eine goldene Ära voller Glanz und Gloria. Dafür sorgte schon der Herrschaftsanspruch des jungen Kaisers. Tatsächlich stammt eine Vielzahl steinerner Zeugnisse auch heute noch aus der Kaiserzeit. Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal an der Porta Westfalica ist nur eines davon. Infrastrukturelle Großprojekte wie der 1915 freigegebene Mittellandkanal mit der Überführung über die Weser belegen den Aufschwung der Wirtschaft in jenen Jahren. Auch in Minden lässt die von 1902 bis 1906 erbaute „Neue Regierung“ am Weserglacis immer noch das Selbstverständnis der staatlichen Verwaltung durch die Architektur erahnen.

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Der ursprünglich kulturhistorisch geprägte Begriff des Wilhelminismus umfasst inzwischen alle Bereiche der Regentschaft von Kaiser Wilhelm II. von 1888/1890 bis 1914/18. Die Einschränkungen am Anfang und Ende machen Sinn, weil sie die Übergangsphasen von der Kanzlerschaft Bismarcks am Beginn und zum Weltkrieg am Ende markieren und ausklammern. Dazwischen liegt die stark von der extravaganten Person des Monarchen geprägte Phase beschleunigten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels, unbestreitbar eine Zeitspanne kultureller und wissenschaftlicher Blüte. Von den bis 1914 vergebenen 68 Nobelpreisen gingen 16 an Deutsche, im Jahr 1910 waren es drei in den fünf Disziplinen. Dass in den Anfangsjahren nie ein Deutscher den Friedensnobelpreis erhielt, störte vermutlich kaum. Die Blüte war aber keineswegs auf das deutsche Kaiserreich beschränkt, sondern erfasste auch andere Staaten in Europa und Nordamerika und wurde übergreifend als „Belle Epoque“ bezeichnet.

Deutschland wollte nicht nur den „Erbfeind“ Frankreich militärisch und politisch auf Distanz halten, sondern wetteiferte in der Wirtschaftsleistung mit den aufstrebenden USA, in denen 2,7 Millionen ausgewanderte Deutsche lebten, um den zweiten Platz hinter Großbritannien. Und schließlich ging das Reich auf Kollisionskurs mit der führenden Seemacht durch permanente Flottenrüstung. Der Kaiser – und nicht nur dieser – meinte, die Zukunft der verspäteten Kolonialmacht liege auf dem Wasser.

Der Wettstreit um Kolonien und um die Herrschaft über andere Erdteile vertiefte alte und schuf neue Feindschaften zwischen den Großmächten. Letztlich schmiedete der Imperialismus auch neue Bündnisse, die die Nationen 1914 in einem Taumel in den „Großen Krieg“ rissen, der, größer als alle bisher dagewesenen, der erste der Weltkriege werden sollte. Der eurozentristische Blick auf ferne Regionen und fremde Völker führte auch in Deutschland zu einer Öffnung des Gesichtsfeldes, aber mit der verzerrten Optik des Chauvinisten. Was seit Jahrzehnten Hagenbecks und andere Völkerschauen im Großen waren, bot in der westfälischen Provinz kurz vor Ausbruch des Weltenbrandes Minden im Kleinen: ein „Neger-Dorf“ bei der Gewerbeausstellung von 1914.

Foto: gemeinfrei

Minden hält nicht Schritt

Zwischen 1890 und 1910 wuchs die Bevölkerung im Deutschen Reich von 49,4 auf 64,9 Millionen Menschen. Die Einwohnerzahl Mindens, das bis zum Beginn der Industrialisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts hinter Münster die zweitgrößte Stadt Westfalens gewesen war und dann hinter die aufstrebenden Industriestädte zurückfiel, stieg von 20.223 – einschließlich 2566 Militärpersonen – im Jahr 1890 in den nächsten 20 Jahren auf 26.265 Einwohner, was dem reichsweiten Anstieg von rund 31 Prozent in etwa entsprach. Dagegen lief die demographische Entwicklung in stärker wirtschaftlich geprägten Zentren in der Nachbarschaft wie Bielefeld (von 39.950 auf 78.380 Einwohner) oder auch nur Herford (von 19.255 auf 32.527) der in der Beamten-, Verwaltungs- und Garnisonsstadt davon, auch wenn der subjektiv empfundene Eindruck des Wachstums Anlass zu Optimismus gab.

Technologischer Fortschritt schlug sich auch in Minden wie in anderen Orten in Deutschland ganz praktisch im Alltag der Menschen nieder. 1893 wurde die Straßenbahn nach Barkhausen gebaut, in den 1890ern die 1883 begonnene Kanalisation erweitert, 1898 die Mindener Kreisbahnen MKB und 1902 ein städtisches Elektrizitätswerk gegründet.

Seit der Entfestigung nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 waren neue Wohnviertel entstanden und auch Unternehmen wie die bekannte Hufeisenfabrik Hoppe & Homann erhielten neue Entfaltungsmöglichkeiten und Platz für größere Produktionsunterlagen. An der Weser wurden Fahrräder ebenso gebaut wie Schiffe und Motorräder. Der Anschluss an die Industriegebiete an Rhein und Ruhr sowie künftig auch nach Berlin schuf verlockende Aussichten auf ein großes Industriegebiet und einen neuen Hafen. Aber dann kam der Krieg dazwischen.

Das soziale Gefüge

Und doch stimmte auch schon vorher etwas nicht in der Stadt wie im Staate, die soziale Durchlässigkeit, Aufstiegsmöglichkeiten, fehlten. Die in Minden geborene und aufgewachsene Sängerin Aenny Hindermann (1872-1955), erste Frau des bekannten Schauspielers Paul Wegener, brachte die spezifische Gesellschaftsstruktur in der Garnisonsstadt – vielleicht paradigmatisch für die Gesamtgesellschaft – in ihren Lebenserinnerungen auf den Punkt: „Nur, wer in einer Beamten- und Militärstadt aufgewachsen ist, kann es ermessen, welche gesellschaftliche Kluft die ,Generalin´ von der ,Regierungsrätin´, die ,Regierungsrätin´ von der ,Frau Gerichtsrat´, diese wieder von der Frau des Gymnasiallehrers (man kannte noch nicht Bezeichnung ,Studienrat´) trennte. Und so ging es weiter herunter. Bis dann in den alteingesessenen Bürgern die eigentliche ,Mindener´ Gesellschaft kam.“

Besonders die schnell wachsende Industriearbeiterschaft gehörte zu den Benachteiligten im wilhelminischen Deutschland, in dem die Unterschiede in der Einkommens- und Vermögensverteilung immer größer wurde. Die Arbeiter wurden am härtesten von Arbeitslosigkeit getroffen, die bis 1913 auf 348.000 Menschen stieg. Aber auch Teile der Angestellten, Handwerker und selbst der Beamten hatten nur einen geringen Nutzen von dem Wirtschaftsaufschwung. Von 1890 bis 1914 stiegen ihre Reallöhne nur um durchschnittlich ein Prozent im Jahr, während sie in Großbritannien, Frankreich, Schweden und den USA um vier Prozent jährlich zulegten.

Andererseits stieg der Rückhalt der SPD, nicht nur in der Arbeiterschaft. Dies näherte die antiparlamentarischen Ängste konservativer und nationalistischer Kreise, die sich umso stärker an ein „plebiszitär untermauertes Flottenkaisertum“ anlehnten, wie der Historiker Volker Berghahn es einmal genannt hat. Imperialistische Expansionsbestrebungen nach außen sollten die sozialen und politischen Konflikte übertünchen.

Mit einem Säbelrasseln zog Wilhelm II. durch die Außenpolitik und stürzte in Ermangelung glorreicher Kriege in der Art seines Großvaters von einem Abenteuer ins nächste: Boxeraufstand, Vernichtung der Herero im damaligen Deutsch-Südwestafrika oder der „Panthersprung nach Agadir“ sind nur einige Beispiele.

Im Vertrauen auf die Überlegenheit der eigenen Technologie und in Erinnerung an die kriegerische Zeit der Reichseinigung unter Wilhelm I. und Bismarck stürzten sich die Eliten des wilhelminischen Deutschland 1914 in den lange erwarteten „Großen Krieg“. Das monarchistische „Reich“ und Abermillionen Menschen sollten darin zugrunde gehen.

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